„Forty Years of Reading Intervention Research for Elementary Students With or at Risk for Dyslexia“ (Hall et al., 2023)
Diese groß angelegte Meta-Analyse (eine Methode, bei der viele einzelne Studien statistisch ausgewertet werden) fasste 53 Interventionsstudien mit über 6 000 Grundschulkindern zusammen. Die Forschenden wollten herausfinden, wie wirksam Leseförderprogramme für Schülerinnen und Schüler mit Legasthenie (Lese‑Rechtschreib‑Störung) oder erhöhtem Risiko sind. Insgesamt zeigte die Analyse einen mittleren positiven Effekt der Förderprogramme (Effektstärke g = 0,33), also eine spürbare Verbesserung beim Lesen. Besonders starke Wirkungen traten auf, wenn die Programme gezielt das Entschlüsseln von Wörtern (phonologische Fähigkeiten) trainierten, also das lautgetreue Lesen und Schreiben. Programme, die vor allem das Leseverständnis trainieren, zeigten geringere Effekte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Dosierung, also die Anzahl der Förderstunden: je mehr Zeit Kinder mit dem Programm verbrachten, desto größer war der Lernzuwachs. Auch der Zeitpunkt spielt eine Rolle – Förderungen in den ersten beiden Schuljahren (Klasse 1–2) waren deutlich wirksamer als Programme ab Klasse 3. Die Forscherinnen und Forscher betonen, dass es trotz jahrzehntelanger Forschung weiterhin an gut dokumentierten Studien fehlt, die die individuellen Bestandteile (z. B. phonologische Übungen, spielerische Elemente) miteinander vergleichen. Sie empfehlen deshalb, zukünftige Studien so zu planen, dass sie untersuchen, welche spezifischen Bausteine besonders hilfreich sind. Für die Praxis heißt das: Frühzeitige, intensive und strukturiert aufgebaute Leseförderung, die vor allem die Laut‑Buchstaben‑Zuordnung übt, ist am erfolgreichsten.
Aktuelle Meta‑Analysen und Übersichtsarbeiten zu Lese‑Rechtschreib‑Interventionen (2023–2024)
Mehrere neuere Übersichtsarbeiten beleuchten unterschiedliche Aspekte der Legasthenie‑Förderung. Cho et al. (2023) untersuchten in einer Meta‑Analyse, ob zusätzliche motivationale Komponenten (z. B. Wahlmöglichkeiten, interessante Texte, Zielvereinbarungen) die Wirksamkeit von Lesetrainings erhöhen. Sie fanden, dass Programme mit explizit eingebauten Motivationsstrategien einen etwas größeren Effekt (g ≈ 0,46) erzielten als solche ohne solche Elemente (g ≈ 0,34). Der Unterschied war statistisch nicht immer signifikant, weil die Anzahl der verfügbaren Studien klein und deren Ergebnisse sehr unterschiedlich waren; dennoch deutet der Trend darauf hin, dass Lernfreude den Lernerfolg erhöhen kann.
Eine weitere Meta‑Analyse von Alqahtani (2024) betrachtete 20 technology‑basierte Leseförderprogramme (z. B. Tablet‑Apps, Computerprogramme). Die Analyse nutzte Tau‑U‑Statistiken (ein Effektmaß für Einzelfallstudien) und fand eine moderate Gesamtwirkung von Tau‑U = 0,87. Überraschenderweise spielten Faktoren wie Unterrichtsformat (Einzelsitzung vs. selbstständiges Üben), Klassenstufe, Art des eingesetzten Geräts oder die konkret trainierte Lesefertigkeit keine signifikante Rolle für den Erfolg. Die Autorinnen und Autoren schließen daraus, dass digitale Tools eine nützliche Ergänzung sein können, aber die Kernprinzipien der Leseförderung (systematisches Lautlesen, Feedback, ausreichend Übungszeit) weiterhin entscheidend bleiben.
Eine auf Leseschwierigkeiten bei Kindern mit ADHS spezialisierte Meta‑Analyse (Chan et al., 2023) analysierte 18 Studien mit 564 Kindern. Diese Untersuchung fand sehr große Effekte von Leseförderungen auf selbstentwickelte Lernstandsmessungen (g = 1,91) und immer noch große Effekte auf standardisierte Tests (g = 1,11). Besonders wirkungsvoll waren Programme, die mindestens 30 Stunden intensives Training der phonetischen Dekodierung (Laut‑Buchstaben‑Zuordnung) boten – diese Programme erfüllten die Kriterien für „gut etablierte evidenzbasierte Praxis“. Die Autorinnen betonen, dass Leseförderungen die bevorzugte Behandlung bei Kindern mit ADHS‑bedingten Leseschwierigkeiten sein sollten und dass eine zusätzliche ADHS‑Medikamentation das Leseergebnis nicht verbessert.
Zusammenfassend zeigen diese aktuellen Übersichtsarbeiten, dass strukturierte Lesetrainings – idealerweise kombiniert mit motivierenden Elementen und gegebenenfalls digitalen Übungstools – die wirksamste Unterstützung bei Lese‑Rechtschreib‑Schwierigkeiten sind.
„Impact of Phonological Awareness Intervention Combined with Transcranial Direct Current Stimulation …“ (Mirahadi et al., 2025)
Diese randomisiert kontrollierte Studie (also ein wissenschaftliches Experiment mit Zufallszuweisung und Kontrolle) untersuchte, ob eine Kombination aus phonologischer Bewusstheit (PA)‑Training und transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS) Kinder mit Dyslexie stärker verbessert als PA‑Training alleine. Phonologische Bewusstheit bezeichnet die Fähigkeit, die Lautstruktur von Wörtern zu erkennen und zu manipulieren (z. B. Reime, Silben), während tDCS eine sanfte elektrische Stimulation des Gehirns ist. 30 Kinder (durchschnittlich etwa 9,3 Jahre alt) nahmen teil und wurden einer von zwei Gruppen zugeteilt: Die eine Gruppe erhielt phonologische Übungen plus Schein‑Stimulation, die andere Übungen plus tatsächliche tDCS. Beide Gruppen absolvierten 15 Sitzungen zu je 60 Minuten über fünf Wochen.
Die Ergebnisse zeigten, dass das PA‑Training allein die Leistungen in Rapid Automatized Naming (RAN) – also das schnelle Benennen von vertrauten Objekten – und im verbales Kurzzeitgedächtnis deutlich verbesserte. Die zusätzliche tDCS über dem linken parietalen/temporalen Hirnareal führte jedoch zu keiner weiteren Verbesserung. In der „Plain Language Summary“ (Laienverständliche Zusammenfassung) wird betont, dass tDCS eine interessante Ergänzung sein kann, aber in dieser Studie keinen Mehrwert hatte: Die Forschenden raten daher, die Methode vorsichtig einzusetzen und sich weiterhin auf bewährte phonologische Trainings zu konzentrieren. Dies gilt insbesondere, weil tDCS kostspielig ist und keine zusätzlichen Erfolge zeigte.
Insgesamt bestätigt die Studie, dass intensives Training der phonologischen Bewusstheit zentrale Fähigkeiten wie das schnelle Abrufen von Wörtern und das Kurzzeitgedächtnis verbessert, während die zusätzliche Hirnstimulation in dieser Form nicht sinnvoll ist. Besonders für Lehrerinnen und Therapeuten bedeutet das: Übungsprogramme zur Laut‑Buchstaben‑Zuordnung und zum schnellen Wortabruf sind entscheidend; experimentelle Hirnstimulation sollte zunächst in der Forschung bleiben.